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Indien
Indien

Entdeckerfreude und Aussicht auf Horizonterweiterung überwogen die Bedenken wegen meiner engl. Sprach(un)kenntnisse und den Auswirkungen auf den ökologischen Fussabdruck, sowie meine Skepsis gegenüber personeller Solidarität und der Scheu, in Zukunft eine beliebte Ansprechadresse für indische Besucher in der Schweiz zu werden, so dass ich schliesslich die Einladung doch gern annahm, Br. Ephrem auf seiner Indienreise vom 4.-21. November 2013 zu begleiten.

Wir flogen von Zürich direkt nach New Dehli und wurden zwei Tage von den dortigen Mitbrüdern stundenlang geschickt und sicher durch mörderischen Verkehr (oder man kann auch sagen „Wunder von Verkehr“) an touristische Ausflugsziele wie Taj Mahal und Fort in Agra sowie Qutub-Minar, den Lotos-Tempel der Bahai-Religion und schliesslich zum Swaminarayan Tempel in Dehli geführt. Das gab einen ersten Eindruck in das bunte Gemisch von Religionen, die Vielfalt dieses Landes und die Gastfreundlichkeit der Mitbrüder.

Dann änderte sich der Reisestil. Nach einem frühmorgendlichen Inlandflug ganz in den Osten von Indien, Assam – eine „Missionsgründung“ von Kerala aus – ging es gleich in ärmlichem Landgebiet per Auto von Kapuziner-Station zu Station mit ihren Schuleinrichtungen vom „Kindergarten“ bis zur Oberstufe, meist getragen von Schwesterngemeinschaften. Ein Dispensaire mahnt an die Tücke der hier stark verbreiteten Malaria, wenn nicht schnell genug eingegriffen werden kann und zeigt, dass Mission „umfassend“ gelebt wird. Einfache Hütten – auch Schulzimmer – aus Bambus, zwei Kochstellen für über hundert Schulkinder, aufwändige Hand- und Landarbeit erinnerten mich an einen Haiti-Besuch bei meiner Schwester. Hier kommt hinzu, dass bereits nach einer Viertelstunde Fahrt wieder eine völlig andere Sprache gesprochen wird und Zusammenarbeit erschwert. Das erste Mal weilte ich sogar in einem matriarchal geprägten Gebiet. Ebenso verschieden ist die religiöse Situation wechselnd von 1 bis zu 85 % Christen unter Muslimen, Hindus oder Adivasi. Es hat mich beeindruckt und überzeugt, wie hier unter schwierigen und einfachsten Bedingungen Schulbildung und damit Zukunft ermöglicht wird.

Ein weiterer Ausflug führte dann „in die Berge“ mit einem angenehmeren Klima, das damals auch die Briten entdeckten und zu ihrem beliebten Standort machten – mit entsprechend anderem Niveau des Lebensstandards.

Weiter ging es in den Südosten nach Andra Pradesh – und dann noch südlicher an die Westküste nach Kerala,  wo Ephrem am Kapitel in Pavanatma teilnahm. Ich selber wurde zuerst in Andrah-Pradesh und dann in Kerala von Mitbrüdern aufmerksam begleitet und weiter von Station zu Station und Schwesterngemeinschaft geführt. Dies war oft verbunden mit einem Begegnen indischer Mitbrüder unter sich, die in verschiedenen Formationen mitfuhren. Vielleicht ist diese Kontaktfreudigkeit indisches Naturell, vielleicht auch ein Bedürfnis aufgrund der kleinen Gemeinschaften, in denen sie leben. Auf jeden Fall genoss ich mit ihnen die feine – sicher zu solchem Anlass besonders reichhaltige indische Küche, die bei mir zu keinerlei „Spät-Folgen“ führte.

Ein besonderes Erlebnis war für mich mein selbständiger Ausreisser nach dem geschichtsträchtigen Cochi, u.a. mit der Grabstätte von Vasco da Gama, wo ich die indischen Verkehrsmittel Zug, Fähre und Bus – inklusiv versuchten Pass-Diebstahls – kennenlernte. Wie ein Anker wirkte das besorgte SMS des Provinzials: „Wenn du den Weg nicht findest, ruf mich an, ok.“, was mein Stolz allerdings nicht zuliess. Die Stimmung am Meer mit den chinesischen Fischernetzen wäre romantisch. Doch sie wird schnell erstickt durch die überall augenfällige Umweltbelastung. Deren zukünftiges Ausmass bei sich steigerndem Lebens-Standard lässt sich erahnen, wenn man hinter einem Bus herfährt und von Papierbechern der Fahrgäste, die offensichtlich gerade mit einem Getränk erfrischt wurden, eingedeckt wird.

Ich fände es eine spezifisch franziskanische Sendung, in diesem Schöpfungsbereich in Indien – und andern Ländern der Welt – tätig zu werden, ganz nach dem Motto: hier eine Müllverbrennungsanlage zu bauen wäre tausend mal effizienter als bei uns sehr teuer die letzten Abgase herauszufiltern. Es muss ja nicht gerade eine Verbrennungsanlage sein, aber…

Was überall ähnlich war, waren die herzlichen Empfänge, z.Teil mit Tanz, Trommel, Tambourin und Gesang, immer begleitet von extra reich gedecktem Tisch. Für europäische Mägen, die scharfes weniger mochten, gabs stets zusätzlich Hähnchen, Kartoffeln, Kabis, Spiegelei und Toastbrot, öfters sogar Bier – was bei den indischen Wintertemperaturen von 25-30 Grad, inkl. nachts, auch ich gern annahm. Dass das nicht üblich ist, konnte ich daran ablesen, dass die jüngeren Studenten und Kandidaten, die servierten, nicht wussten, wie das Bier einzuschenken war. In Studienhäusern gab es ein Extraprogramm mit Tanzeinlagen der Studenten sowie Sketchs, z.B. ein Macho-Bodybuilder, der Papierhanteln stemmte und Sagex-Steine mit Leichtigkeit zerbrach. Besonders wohltuend war ein Sketch übers überall-präsente „Handy­­­-ieren“, sei es mitten im Ja-Wort-Geben bei der Hochzeit oder beim Operieren, so dass das Handy schliesslich aus dem zugenähten Bauch klingelte, oder sogar beim Grabgang, wo ein Träger nach dem andern sich zum Telefonieren wegstahl, bis der Tote selber ins Grab gehen musste. Es zeigte das Bewusstsein, dass das sehr häufige Telefonieren zu allen Zeiten, öfters auch bei Tisch und beim Autofahren!, nicht ganz „unhinterfragt“ ist.

Immer wieder wurde bei der Begrüssung vermerkt und gedankt, wieviel die Schweizer Kapuziner gespendet haben. Einem aufmerksamen Auge fällt das auch sonst auf, denn an Kirchen, Wasserwerken, Studienhäusern, Klöstern und der eigenen Universitätsbibliothek hängen Tafeln: „unterstützt durch die Kapuziner von Luzern“ u.ä.. Das liess in mir das mulmige Gefühl vom „reichen Onkel aus Amerika“ oder dem „Besuch der alten Dame“ von Dürrenmatt aufkommen, mit der Frage des „armen Reichen“, ob das alles seinetwegen oder nur seines Geldes wegen sei? In besonders ärmlichen Gegenden und auf einsamen Posten war unser Besuch deutlich als Zeichen der Anerkennung und Wertschätzung zu spüren und die Freude entsprechend gross.

Spannend und überzeugend war für mich, wie für Sozialwerke Geld generiert wird, da Antoniuskassen und Briefspenden nicht so selbstverständlich „fliessen“ wie bei uns. Hier gab es einen sorgfältig gepflegter Marien-Wallfahrtsort, dort die Förderung der Verehrung der Grabstätte eines seligen Terziars mit besonderer Betreuung von (kinderlosen) Ehepaaren und Familien, an einem andern Ort ein spirituelles Zentrum, das eher nach „evangelikalem Stil“ betrieben wird und jeden Freitag viele Leute anzieht – und überall kommen dadurch auch Spenden für Nothilfe zusammen: für Notunterkünfte für Obdachlose, für „Suppenküchen“ mit Hunderten von Essen, für ein Altersheim für verwaiste arme Leute.

Wir besuchten auch mehrere Druckereien. Eine blieb mir besonders in Erinnerung, wo die Kapuziner ermöglichen, dass Frauen auf einfachste Art Schulhefte drucken und von Hand zusammennähen. Die Frauen werden dann am Gewinn beteiligt und können so ihre Familien durchbringen. Andere Druckereien werfen Gewinn ab, der dann in soziale Projekte investiert wird. Da liegt die Bitte nach finanzieller Solidarität für eine effizientere und modernere Offsetdruckmaschine auf der Hand, um Gutes wirken zu können. Im gleichen Atemzug denkt man dann aber wieder an Betriebe wie die viel einfachere Druckerei der Frauen, wie lange dann diese im noch härteren Konkurrenzkampf bestehen kann! Aber in all diesen sozialen Einsatzbereichen begegnete mir Freude, Sinn, Schwung und Überzeugungskraft unseres franziskanischen Charismas.

In diesem Land der tausend Sprachen fällt auf, wie sprachbegabt und interessiert viele Mitbrüder sind. Bereits die Grammatikkenntnisse eines Mitbruders, der nur vier Monate in Deutschland studierte, sind beeindruckend, auch wenn ich dann bei Alltags-Fragen mit ihm doch wieder anstand. Ich staunte, wer alles in Heidelberg, Münster, Wien, Rom.. ja sogar in Morogoro studierte. Aber auch da erlebte ich Verschiedenes: nicht mit jedem, der selbst Jahre in Deutschland studierte, war ein differenziertes Gespräch über Nachwuchssorgen und –fragen, die sich bereits auch in Indien abzeichnen, möglich. Da fragte ich mich, wen ich jetzt als Vertreter in der Spitalseelsorge sähe, wo ja meist nicht mehr die „ritualisierte Seelsorge“, sondern das persönliche Gespräch und Einfühlen gefragt ist? Mission spielt sich bei uns an der Grenze von Glauben zu Psychologie, zu Erspüren und Verständnis von menschlichen Sehnsüchten und Grenzen ab, was ein feines Gespür und Kenntnis von Kultur und Sprache voraussetzt. Das ist eine hohe Hürde, um heute bei uns seelsorgerlich wirken zu können.

Der Drang nach Übersee ist nicht zu übersehen!! – aber wirft die Frage auf: was möchte denn mit der personellen Solidariät gebracht werden? Mit dem herkömmlichen Stichwort „personelle Solidarität“ verbinden wir ein „Bringen“. Aber ist es ein „Bringen“ oder eher ein „Holen“? Was wir als Kapuziner in der Schweiz „bräuchten“, wären ja besonders Mitbrüder im internen Dienst an alternden Gemeinschaften. Aber das ist nicht attraktiv und würde uns hierzulande als Ausbeutung und Missbrauch ausgelegt. Doch stimmt das missionarisch geladene Stichwort „personelle Solidarität“? oder wäre „globalisiertes Wirken“ nicht stimmiger. Auf jeden Fall braucht es unsererseits einen hohen personellen Aufwand und allseits grosse Offenheit, um einen guten Boden für dieses (priesterliche) Einwandern zu schaffen. Ob wir die Ressourcen für dieses „neue Projekt“ – neben all den andern Projekten – noch haben?

Mir fiel auf, dass in verschiedenen Punkten die indischen Mitbrüder anders ausgerichtet sind als wir: wir trafen rundwegs sehr kleine Gemeinschaften von 1 – 7 Mitbrüdern an, die meist Pfarrer-priesterlich ausgerichtet waren, die einzelnen je mit ihrer Aufgabe beschäftigt. Die Seelsorge schien mir sehr familienbezogen (man spricht nicht von „wieviel Christen“, sondern „wievielen Familien“) und z.T. evangelikal geprägt, bis hin zur „Mode“, die Gottesdienste über Lautsprecher in die ganze Umgebung hinauszuposaunen.

Ich hörte, wie man den Provinzial mit „Father“ ohne persönlichen Namen ansprach. An „Brother“ ist in der Öffentlichkeit nicht zu denken. Die Mutationen sind in einem sehr hohen Takt, woraus ich schliesse, dass die Seelsorge kaum auf Beziehungen beruhen kann. Aus vielen kleinen Zeichen war zu spüren, dass die Hierarchien im Orden (a la Kastendenken?) alles andere als flach sind. Und Laienbrüder gibt es praktisch nicht. Einer hat mir direkt gesagt, dass man das auch nicht wolle, das gäbe nur Probleme. Allerdings, so bekam es Ephrem mit, wurde am Kapitel in Pavanatma gerade umgekehrt diskutiert, man müsse und wolle in dieser Richtung arbeiten.

All das zu sehen, liess mich – nebst der Hitze und all den vielen Eindrücken – manchmal nicht allzu tief schlafen. Es kamen Gedanken zu „kapuzinischer Überfremdung“, wodurch franziskanische Werte, die wir hier nur mühsam errangen, wieder verlieren könnten: so z.B. das selbstverständliche Miteinander von Laien- und Priesterbrüdern oder die Zusammenarbeit mit Laien im liturgischen Bereich,  u.a.

Ich fände es eine Überlegung wert, statt eines jahrelangen Austausches jeweils für eine „Touristenvisumszeit“ im Klosterumkreis ein Bündel von Seelsorgsaushilfen zu schnüren, z.B. über die Sommer- oder Herbstzeit, wo vorwiegend die priesterlichen Dienste gefragt sind, und dann für diese Zeit einen indischen Mitbruder einzufliegen. Er würde in Indien nicht entwurzelt, bekäme hier den Lohn für seine Aushilfen, lebte in unserer Gemeinschaft und würde Pfarrer und Priester unterstützen, aber nicht ersetzen.

Ich überlege mir auch die Fragen nach dem Wieviel. 1:1 wäre ein guter Schlüssel: wir haben einen 30 jährigen Mitbruder, drei 50 jährige, fünf 60 jährige usw., und nehmen (höchstens) entsprechend viele ausländische Mitbrüder auf, damit ein guter Austausch und eine gelungene Integration überhaupt möglich wird.

„Kurz- und Erst-Reisende sind die gefährlichsten Berichterstatter“, Im Bewusstsein dieser Gefahr .- und „im Gehorsam“–– habe ich diese Zeilen geschrieben und bin dankbar für die vielen Eindrücke und die gastliche und freundliche Aufnahme und Begleitung der indischen Mitbrüder, die mir viele Einblicke ermöglichten. Als Ausgleich zum Nicht-Verstehen der Sprache habe ich umso mehr Bilder geschossen, die ich hier nicht beifügen kann, hoffentlich aber innerlich mitnehme.

In einem Reiseführer las ich, das Spezielle an Indien sei, dass Armut und Reichtum so krass nebeneinander leben: und tatsächlich, da sah ich selbstverständlich Ochsenkarren neben Chevrolets, auf dem Markt Marien- und Heiligenstatuen neben Buddhas und Shivas, die Einfahrt zu einer Go-Kart-Bahn neben Frauen, die „von Hand“ Steine zu Kieseln zerschlagen, usw.. Ich wünsche und träume, dass dieses selbstverständliche Nebeneinander von äusserster Armut und höchstem Reichtum, von dreckigster Umgebung und höchst aufwändig besorgtem Mittelstreifen des Highways  uns in Europa erspart – und in Indien behoben werden kann.

Br. Josef Haselbach

Indienbericht mit Bildern